Warum wir unsere neuen Lebenswelten nicht mit alten Worten beschreiben können. Beispiel: Einsamkeit

Ich habe aufgehört Menschen zu fragen, ob sie einsam sind. Ältere Personen erzählen mir von sich aus wie sie sich fühlen und mittelalte Gesprächspartnerinnen weisen diese Frage erfahrungsgemäß entrüstet zurück.
Ich verstehe das. Das ältere Menschen oftmals einsam sind, darüber hören wir viel in den Medien. Es überrascht uns nicht und natürlich trägt niemand die Schuld daran. Die Lebensumstände sind es, die traurigerweise zu dieser Situation geführt haben. Bedauerlich, aber da kann man halt nichts machen.

Reifegrade der Freundschaft

Wenn ich mit Frauen zwischen 25 und 55 Jahren spreche, sieht die Sache anders aus. In dieser Altersstufe ist Einsamkeit ein heikles Thema, denn die öffentlichen Meinung hält ein Selbstverschulden durchaus für eine realistische Ursache. Deshalb erhalten Frauen, die dreierlei äußern auch entsprechende Ratschläge:

  • Geh doch öfter mal raus
  • Mach was Soziales
  • Sprich mit deinen Nachbarn
  • Lade Arbeitskollegen zu dir ein
  • Sei freundlich, aufgeschlossen und höre anderen zu

und so weiter. Alle diese Tipps sind auch gut und richtig und können durchaus zu einer angenehmen Nachbarschaft und zu einem netten Bekanntenkreis führen. Doch damit eine echte und verlässliche Verbundenheit entsteht, braucht es neben gemeinsamen Interessen und Zielen noch etwas sehr Wesentliches, nämlich: Zeit. Gemeinsam verbrachte Zeit.

Die meisten Bekanntschaften kommen über einen unreifen Freundschaftsgrad nicht mehr hinaus

Das führt dazu, dass wir einen Kontakt beim ersten Konflikt ohne großes Bedauern aus der Freundesliste und damit aus unserem Leben streichen. Was bleibt, ist eine kleiner werdende Sammlung weiterer unreifer Freundschaften. Vielleicht geeignet für den Austausch ähnlicher politischer Ansichten oder vegetarischer Rezepte. Aber zum Scheitern verurteilt, wenn die Stürme des Lebens an den Segeln unserer Lebensschiffe zerren.

Unreife Freundschaften führen zu einem prekärem Gemeinschaftsgefühl

Ein prekäres Arbeitsverhältnis gibt mir für den Moment die Möglichkeit zu Überleben. Ob es jedoch nach Ablauf des Arbeitsvertrages verlängert wird, weiß ich nicht. Auch die Qualität der Aufgabe ist meist der niedrigen Bezahlung angemessen. Nur selten stellen sich hier Zufriedenheit mit dem Geleisteten ein. In unreifen Freundschaften verhält es sich ähnlich. Klar, es ist „jemand“ da. Ich bin nachweislich nicht allein. Und vielleicht kann ich mich auch auf die anderen verlassen. Doch sicher weiß ich das nicht. Das ist die Ursache dafür, dass sich in besonderen Zeiten, wie z.B. Weihnachten ein tiefer Schmerz des Nicht-verbunden-seins einstellen kann.

Bist du einsam? Falsche Frage.

Wir verwenden die Frage: „Bist du….?“ meist, um Kenntnis über einen Gesamtzustand zu erhalten. Also z.B.: „Bist du krank?“ Ein von Grippe geplagter Mensch würde mit heiserer Stimme antworten: „Ja. Ich fühle mich so elend.“ Oder: „Bist du hungrig?“ „Oh ja, ich will nur noch was essen.“

Etwas anderes ist es, wenn ich frage: „Bist du einsam?“ Hier fallen die Antworten meist so aus: „Wie sollte ich einsam sein? Ich arbeite viel und verstehe mich gut mit meinen Kolleginnen und Kollegen, ich bin gehe regelmäßig zum Sport und mache mit meinen Bikern Wochenendausfahrten. Da bin ich froh, wenn es zwischendurch mal etwas ruhiger ist.“ Die Antwort wäre in Kurzform also: „Nein“.

Doch die meisten von uns leben mit prekären Freundschaften und wissen das: „Na ja, es gibt schon Zeiten, in denen ich gerne hätte, dass jemand verbindlich für mich da wäre. Eine Gruppe von Menschen, die mich kennen und mögen, so wie ich bin. Die nicht nur da sind, wenn ich eine Ausfahrt plane oder um jemanden brauchen, um ins Kino zu gehen.“

Die Zeiten haben sich grundlegend geändert. Die Worte, mit denen wir versuchen, sie zu beschreiben nicht.

Man muss sich das vorstellen: Obwohl sich die Wohn-und Lebenssituation moderner Menschen vollständig von den Gemeinschaften vergangener Jahrhunderte unterscheidet, nutzen wir immer noch die Worte, die zu Zeiten galten, als ein Leben außerhalb einer Gruppe kaum möglich war. Bei einem Singlehaushaltsanteil von 54%, wie es in Städten wie München der Fall ist, bedeutet das, dass wir kaum Worte für die emotionale Situation eines überwiegenden Teiles unserer Bevölkerung haben.

„Gibt es Zeiten, in denen du einsam bist?“

Adelheid Reik

Solange wir keine besseren Worte haben, sollen wir darüber nachdenken, wie wir die, die wir haben, klüger und verständnisvoller nutzen können. Hier hilft, wie so oft, die Frage nach dem WARUM.
Warum könnte es gut sein, darüber nachzudenken, ob es Zeiten gibt, an denen ich einsam bin?

Weil ich damit eine Türe öffne, die mich mit meiner Sehnsucht und damit mit dem Leben in Verbindung bringt.
Und mir damit zeigt, was in meinem Leben noch alles an Schönem und Gutem möglich ist.

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