Moderne Menschen kennen vielfältige Formen von Einsamkeit. Es wird Zeit, dies anzuerkennen und das Gefühl und den Zustand der Einsamkeit vom üblen Beigeschmack vergangener Zeiten zu befreien.
Unser Verständnis von Einsamkeit ist vollkommen veraltet.
Kein Wunder dass es uns so schwer fällt, die eigentliche Dimension dieses kollektiven Gefühls zu erfassen, geschweige denn, Betroffenen echte Unterstützung anzubieten.
Die weitaus längste Zeit in der Menschheitsgeschichte lebten wir in engen Gemeinschaften. Das Leben innerhalb einer gut funktionierenden Gruppe war nicht nur sicherer, es ermöglichte Nahrungsbeschaffung, Kleiderherstellung, Kinder-und Altenbetreuung und alles, was sonst für das Überleben erforderlich war, arbeitsteilig zu organisieren und dadurch effizienter zu sein.
Das Eingebundensein in eine Gruppe, eine Familie oder eine Gemeinschaft war so selbstverständlich, dass es dafür nicht mal ein eigenes Wort gibt. Wir kennen Gegensatzpaare wie Krankheit – Gesundheit. Aber zu Einsamkeit gibt es kein Gegenstück. Man brauchte es nicht. Dieser Zustand war ja selbstverständlich vorhanden.
Was ist das Gegenteil von Einsamkeit?
Suchmaschinen geben bei einer Gegenteilsuche Begriffe aus, die sich dem Gefühl der Zugehörigkeit annähern: geborgen sein, gemeinsam sein oder in Zweisamkeit leben. Aber jeder Begriff beschreibt nur einen Aspekt des Nicht-einsamsein.
Ich kann in meiner Herkunftsfamilie Geborgenheit erleben und dennoch einsam sein in Hinblick auf eine erfüllende Partnerschaft oder inspirierende Freunde. Ich kann mit anderen viel gemeinsame Zeit verbringen und mich dennoch mich einsam fühlen, weil ein intellektueller Austausch nicht möglich ist. Zweisamkeit ist schön. Doch es gibt ebenso glückliche, nicht einsame Singles. Und dass Zweisamkeit kein echten Schutz vor Einsamkeit ist, zeigen die vielen traurigen und manchmal tragischen Berichte von Einsamkeit in einer Ehe.
Unsere Lebenswirklichkeit hat sich verändert.
In den vergangenen 120 Jahre hat sich die Bevölkerungsstruktur Deutschlands dramatisch verändert. Die Anzahl der Singlehaushalte hat sich von 6% in 1900 auf deutschlandweit 43% in 2019 erhöht. In Städten wie München liegt diese Zahl sogar bei 54%, Tendenz weiter steigend. Wer alleine lebt, wird naturgemäß auch öfter Momente der Einsamkeit erleben. Das bringt das Alleinleben mit sich. Das Gefühl der Einsamkeit stellt daher für viele Menschen, ganz im Gegensatz zu früher, nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel dar.
„Bist du einsam?“ Falsche Frage.
Die Frage: „Bist du einsam?“ löst bei vielen Menschen Irritationen und Unsicherheiten aus. Was sollen sie darauf antworten? Antworten sie mit „ja“, dann müssen sie damit rechnen ein Label verpasst zu bekommen. Einsame haben keinen guten Ruf. Sie gelten als sozial schwierig, seltsam, tröge, langweilig, manchmal streitsüchtig und rechthaberisch. Auch wenn sich gerade kein offensichtlicher Grund finden lässt, es wird schon einen geben. Nein, dieser Beurteilung möchte man sich nicht aussetzen.
Antworten sie hingegen mit „nein“, so fühlen sie sich vielleicht auch nicht gut damit, denn es könnte ja durchaus Lebensbereiche geben, in denen man sich einsam fühlt.
Ein Zustand, der schmerzhaft ist und Selbstzweifel verursacht. Wie schön wäre es, dies einem wohlmeinenden Menschen gegenüber äußern zu können und auf Verständnis zu stoßen.
Eine Frage, die so viel Scham auslöst, wird niemals ehrliche Antworten erhalten.
Die Frage ist aus zwei Gründen problematisch:
1) Sie ignoriert völlig, dass es selten ein ganzes Leben ist, welches unter Einsamkeit leidet. Meist sind es Teilbereiche, in denen wir uns mehr Kontakte oder eine andere Qualität von Kontakten wünschen.
2) Weil sie das Potential hat, eine ganze Person tief zu beschämen. Das ist in keinerlei Hinsicht hilfreich.
Unser modernes Leben braucht eine passende Sprache.
Wir müssen unsere Sprache unserem Leben anpassen. Viele Menschen – und es werden immer mehr – leben mit zeitweiser Einsamkeit. Oft freiwillig.
Eine gute Frage könnte sein: „Gibt es Bereiche in deinem Leben, in denen Du Einsamkeit fühlst?“ Dann gäbe dies die Möglichkeit, festzustellen: „Ja, es gibt ein oder zwei Bereiche.“ Es beträfe zudem nicht die gesamte Person, sondern eben einzelne Situationen, Zeiten oder Begegnungen, in der die Sehnsucht nach jemandem oder etwas groß ist.
Chronische Einsamkeit ist gefährlich
Einsamkeit kann chronisch werden und dann wird sie zum Problem. Sie schädigt nicht nur die betroffene Person, kann Ängste auslösen und kann sogar einen vorzeitige Tod herbeiführen. Sie ist eine Herausforderung für die ganze Gemeinschaft und hat sogar Einfluss auf den Fortbestand unserer Demokratie. Wir müssen uns dem Problem stellen und Lösungen finden. Aber wir brauchen eine Sprache, die uns ermöglicht, präzise zu benennen worum es geht.
Nur dann wird es uns gelingen, den modernen Lebenswelten, wie sie eben sind und den tiefen Bedürfnissen, die wir als soziale Wesen in uns tragen, Rechnung zu tragen.